Lengnink, Katja / Prediger, Susanne / Siebel, Franziska (Hrsg.):

Mathematik und Mensch

Sichtweisen der Allgemeinen Mathematik

Darmstädter Schriften zur Allgemeinen Wissenschaft 2
Verlag Allgemeine Wissenschaft, Mühltal 2001
ISBN 3-935924-01-1

 


Die Mathematik und der Mensch werden traditionell als etwas voneinander Getrenntes angesehen. Mathematik existiert in dieser Vorstellung als eine vom Menschen unabhängige Gedankenwelt, deren Wahrheiten allenfalls vom Menschen entdeckt werden können, für den Menschen bleiben keine Gestaltungssspielräume.

Die Trennung von Mathematik und Mensch wird derzeit zumindest in einer Richtung als nicht ganz so absolut angesehen. Es ist mittlerweile allgemeines Gedankengut, dass Mathematik auf menschliches Denken und Handeln zurückwirkt. Darüber hinaus wird der Mathematik ein hoher Stellenwert in unserem heutigen Bildungsssystem beigemessen, der vor allem in dem ihr innewohnenden Potential zur Schulung des logischen und exakten Denkens im menschlichen Geist begründet ist.

Die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Mathematik und Mensch erscheint daher notwendig und lohnend, um Fragen nach der Stellung von Mathematik zum menschlichen Denken und Handeln zu klären. Dies hat auch Auswirkungen auf die Frage nach dem Lehren und Lernen von Mathematik.

Im vorliegenden Sammelband wird das Themenfeld aus wissenschaftsphilosophischer und -historischer Perspektive, aus didaktischer und literarischer Sicht sowie vom Standpunkt der pragmatischen Philosophie aus diskutiert.

 

Beiträge aus wissenschaftsphilosophischer und -historischer Sicht:

Wille, Rudolf: Allgemeine Mathematik ­ Mathematik für die Allgemeinheit (S. 3-20)

Was Mathematik für die Allgemeinheit bedeuten kann und soll, ist nur in einem breit angelegten Verständigungsprozess zu klären. Dieser Verständigungsprozess bedarf einer allgemeinen Diskurskultur, bei der es nicht nur um den Diskurs der Mathematiker untereinander geht, sondern prinzipiell um die Auseinandersetzung aller, die auf unterschiedlichste Weise mit Mathematik zu tun haben oder von ihren Wirkungen betroffen sind. Eine solche Diskurskultur ist angewiesen auf eine „Allgemeine Mathematik“, die das Selbstverständnis der Mathematik, ihr Verhältnis zur Welt sowie Sinn, Bedeutung und Zusammenhang mathematischen Tuns verstehbar macht und dabei von der Vorstellung einer offenen, bedeutsamen, kommunikativen und kritischen Mathematik geleitet wird.

Prediger, Susanne: Mathematik als kulturelles Produkt menschlicher Denktätigkeit und ihr Bezug zum Individuum (S. 21-36)

Ausgehend von dem für das Mathematiklernen fundamentalen Problem des (oft fehlenden) Subjektbezuges soll das Verhältnis von Mensch und Mathematik analysiert werden. Dazu wird die Auffassung von Mathematik als kulturelles Produkt menschlicher Denktätigkeit vorgestellt und begründet. So wird das eigentümliche Spannungsverhältnis verstehbar, dass die Mathematik einerseits zwar durch die Menschheit gestaltet ist, sie dem Einzelnen andererseits aber als objektiv Gegebenes gegenübertritt. Erklärungsbedürftig ist in dieser Auffassung die hohe Kohärenz der mathematischen Theorien und der große Konsens unter Mathematikern. Daher soll unter Rückgriff auf historische Untersuchungen und wissenschaftstheoretische Überlegungen ein Erklärungsansatz angeboten werden.

Siebel, Franziska: Entwicklungslinien in der Mathematik am Beispiel der Geschichte der Algebra.S. 37-52

Mit einer Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung der Mathematik anhand von verschiedenen Phasen des Entwicklungsprozesses der Algebra werden wesentliche Entwicklungslinien herausgearbeitet, die mit Fachsprache, Bezugsystem und Abstraktion überschrieben werden können. Damit wird ein Verständnis wesentlicher Charakteristika der heutigen Algebra vertieft und es kann für einzelne Schritte und Problembereiche im Lernprozess sensibilisiert werden.

Fischer, Roland: Mathematik und Bürokratie (S. 53-63)

Ausgehend von einer von G. Schwarz behaupteten Analogie zwischen Hierarchie und aristotelischer Logik werden Argumente für eine Analogie zwischen Bürokratie und Mathematik angeboten. Eine Gemeinsamkeit zwischen Mathematik und Bürokratie besteht in einer „Verselbstständigung des Maschinellen“ oder, anders ausgedrückt, in einer „Trennung von Regelsystem und Motiv“.

Beiträge aus didaktischer Sicht:

Lengnink, Katja; Peschek, Werner: Das Verhältnis von Alltagsdenken und mathematischem Denken als Inhalt mathematischer Bildung (S. 65-81)

Die Leitthese dieser Arbeit ist, dass ein wichtiger mathematikspezifischer Beitrag zur Allgemeinbildung im Spannungsverhältnis von Alltagsdenken und mathematischem Denken zu suchen ist und der allgemeinbildende Mathematikunterricht erlebbar machen sollte, in welcher Weise alltägliche Denkhandlungen in der Mathematik konventionalisiert werden. Im ersten Abschnitt wird skizziert, dass vorherrschende didaktische Denkrichtungen diesem Anspruch nicht gerecht werden, im zweiten Abschnitt wird der Ansatz, das Verhältnis von Alltagsdenken und mathematischem Denken zu unterssuchen, genauer entfaltet. Im dritten Abschnitt werden Beispiele auf drei verschiedenen Konkretisierungsebenen diskutiert. Im vierten Abschnitt wird ein kurzer Ausblick auf Forschungs- und Arbeitsbereiche versucht.

Jablonka, Eva: Anwendungsorientierung im Mathematikunterricht. Didaktische Möglichkeiten - verpasste Chancen (S. 83-98)

Die Ergebnisse mathematischer Modellierungen werden auf unterschiedliche Weise in der uns umgebenden Alltagswelt wirksam. Ein wichtiges Ziel anwendungsorientierten Mathematikunterrichts besteht daher darin, die Ergebnisse einzelner Modelle im Hinblick auf Bedingungen, Interpretationsmöglichkeiten, Verlässlichkeit, Brauchbarkeit und Praxisrelevanz bewerten zu können. Dazu reichen mathematische Kenntnisse aber keineswegs aus, denn die Anwendung von Mathematik ist immer in einen sozialen und kulturellen Kontext eingebettet. Um Bewertungsmaßstäbe zu diskutieren, werden in dem Aufsatz verschiedene Kategorien von Mathematikanwendungen an Beispielen illustriert, denen unterschiedliche Ziele, Interessen und methodische Normen zugrunde liegen: Modelle als Widerspiegelung empirischer Zusammenhänge, rhetorische und platonische Modelle, Modelle als Transkriptionen von Normen, Zahlenmystik. Die Auswahl von Beispielen für den Unterricht könnte insgesamt darauf gerichtet sein, dass sie exemplarisch die unterschiedlichen Praktiken der Anwendung von Mathematik zeigt, um eine differenzierte Betrachtungsweise anzuregen.

Hefendehl-Hebeker, Lisa: Verständigung über Mathematik im Unterricht (S. 99-109)

Gegenstand dieses Beitrages ist der Prozess der Verständigung über Mathematik in der unterrichtlichen Vermittlung. Dabei werden bestehende Hindernisse und Ansätze zu ihrer Überwindung aufgezeigt.

Strobel, Anton: Natürliche Mathematik in der Freinet-Pädagogik (S. 111-125)

Auch in der Mathematik gibt es Vermittlungsformen für den Menschen statt gegen den Menschen. Statt einer systematischen Teilchendidaktik mit der Verabreichung aufeinanderfolgender Lernhäppchen ist eine pädagogische Feldtheorie mit tastenden Versuchen vorzuziehen. Am Anfang steht der singuläre Erkenntnisgewinn, dann das Reguläre – als krönender Abschluss die Systematik.

 

Beiträge aus der Perspektive der pragmatischen Philosophie:

Hoffmann, Michael: Die synthetisch-pragmatische Mathematikauffassung im Gegensatz zur analytischen. Ein Blick auf die Geschichte der Philosophie der Mathematik (S. 125-140)

Ausgehend von einer eher intuitiven Unterscheidung von „Wissen“ und „Tätigkeit“ wird gezeigt, wie sich diese im Rückgriff auf zwei in der Geschichte der Philosophie konkurrierende Auffassungen von Mathematik, die man als „analytisch“ versus „synthetisch-pragmatisch“ bezeichnen kann, präzisieren lässt. Die These ist, dass sich das „Menschliche“ an der Mathematik in der synthetisch-pragmatischen Mathematikauffassung zeigt, d.h. in einer Mathematikauffassung, die nach Kant auf Erkenntniserweiterung durch die Konstruktion von Begriffen in der Anschauung angelegt ist, und nach Peirce auf die Erfahrung des eigenen Denkens, seiner immanenten Regeln und seiner Möglichkeiten in einem Prozess der „Diagrammatisierung“. Aus dieser Sichtweise werden schließlich einige weiterführend Problemstellungen für die Mathematikdidaktik abgeleitet.

Wille, Rudolf: Mensch und Mathematik. Logisches und mathematisches Denken (S. 141-160)

Logisches Denken als Ausdruck menschlicher Vernunft erfasst die faktische Realität in den grundlegenden Denkformen Begriff, Urteil und Schluss. Mathematisches Denken abstrahiert vom logischen Denken, um hypothetisch einen Kosmos von Formen potentieller Realität zu erschließen. Die Mathematik als Ausformung mathematischen Denkens kann deshalb den Menschen in seinem logischen Denken über Realitäten unterstützen und damit vernünftiges Handeln fördern. Dieser Gedankengang wird vornehmlich von Peirces philosophischem Pragmatismus her ausdifferenziert und anhand der in Darmstadt entwickelten Kontextuellen Logik konkre­tisiert.

Beiträge aus literarischer Sicht:

Radbruch, Knut: „Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntniss“ (Nietzsche) (S. 161-172)

Die nicht sehr zahlreichen Anmerkungen zur Mathematik im Werk Nietzsches vermitteln weder eine Ortsbestimmung der Mathematik im Kanon der Wissenschaften noch eine klare Aussage über die Beziehungen zwischen Philosophie und Mathematik. Nietzsche lobt einerseits die „reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist“, doch warnt er andererseits auch vor Tendenzen, welche „das Dasein zu einer Rechenknechts-Übung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen“. Dennoch: Die heutige Philosophie der Mathematik kann und muss von Nietzsche lernen. In diesem Beitrag wird gezeigt, dass insbesondere der soziale Konstruktivismus als einer der Branchenführer gegenwärtiger Philosophie der Mathematik Nietzsches sporadischen Bemerkungen über Mathematik wertvolle Anregungen entnehmen kann.

Lowsky, Martin: Unvergessliche Seelenverwandtschaft: Theodor Fontane lernt Mathematik bei Jakob Steiner (S. 173-182)

Im Mittelpunkt steht ein Gedenkartikel aus der Feder Fontanes und das hier sichtbare komplizierte Verhältnis Fontanes zur Mathematik. Der Schriftsteller Theodor Fontane (1819-1898) hatte in seiner Schulzeit als Mathematiklehrer Jakob Steiner (1796-1863), den genialen Begründer der synthetischen Geometrie. Noch als 78-Jähriger erinnert sich Fontane an die Rechenaufgaben und bekennt in einem Gedenkartikel seine Hochachtung und seine Seelenverwandtschaft in bezug auf Steiner, sagt aber zugleich von sich, er sei mathematisch gänzlich unbegabt. Spezielle Passagen in Fontanes Werken und Briefen zeigen indes, dass er den Umgang mit Zahlen souverän bewältigte und auch die ‚Mathematik als Formdenken’ beherrschte. Der psychisch und auch hinsichtlich einer Lernkultur bemerkenswerte Fall lässt sich klären: Fontanes Beruf als Apotheker, der Rechenfertigkeiten erforderte und der, als eine unakademische Laufbahn, ihm lebenslang peinlich war, hinderten ihn daran, sich zu seinen mathematischen Talenten zu bekennen, bei aller Verehrung für Steiner. – Die Berliner ‚Gewerbeschule’, an der die Begegnung Steiner-Fontane stattfand und die ein neues naturwissenschaftliches Schulmodell war, wird in diesem Beitrag ebenfalls vorgestellt.


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