Lengnink, Katja / Prediger, Susanne / Siebel, Franziska (Hrsg.):Mathematik und MenschSichtweisen der Allgemeinen MathematikDarmstädter Schriften zur Allgemeinen Wissenschaft
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Die Mathematik und der Mensch werden
traditionell als etwas voneinander Getrenntes angesehen. Mathematik existiert in
dieser Vorstellung als eine vom Menschen unabhängige Gedankenwelt, deren
Wahrheiten allenfalls vom Menschen entdeckt werden können, für den Menschen
bleiben keine Gestaltungssspielräume.
Die Trennung von Mathematik und Mensch wird
derzeit zumindest in einer Richtung als nicht ganz so absolut angesehen. Es ist
mittlerweile allgemeines Gedankengut, dass Mathematik auf menschliches Denken
und Handeln zurückwirkt. Darüber hinaus wird der Mathematik ein hoher
Stellenwert in unserem heutigen Bildungsssystem beigemessen, der vor allem in
dem ihr innewohnenden Potential zur Schulung des logischen und exakten Denkens
im menschlichen Geist begründet ist.
Die Beschäftigung mit dem Verhältnis von
Mathematik und Mensch erscheint daher notwendig und lohnend, um Fragen nach der
Stellung von Mathematik zum menschlichen Denken und Handeln zu klären. Dies hat
auch Auswirkungen auf die Frage nach dem Lehren und Lernen von Mathematik.
Im vorliegenden Sammelband wird das Themenfeld
aus wissenschaftsphilosophischer und -historischer Perspektive, aus didaktischer
und literarischer Sicht sowie vom Standpunkt der pragmatischen Philosophie aus
diskutiert.
Beiträge aus wissenschaftsphilosophischer und -historischer Sicht:
Wille, Rudolf: Allgemeine Mathematik Mathematik für die Allgemeinheit (S. 3-20)
Was
Mathematik für die Allgemeinheit bedeuten kann und soll, ist nur in einem breit
angelegten Verständigungsprozess zu klären. Dieser Verständigungsprozess bedarf
einer allgemeinen Diskurskultur, bei der es nicht nur um den Diskurs der
Mathematiker untereinander geht, sondern prinzipiell um die Auseinandersetzung
aller, die auf unterschiedlichste Weise mit Mathematik zu tun haben oder von
ihren Wirkungen betroffen sind. Eine solche Diskurskultur ist angewiesen auf
eine „Allgemeine Mathematik“, die das Selbstverständnis der Mathematik, ihr
Verhältnis zur Welt sowie Sinn, Bedeutung und Zusammenhang mathematischen Tuns
verstehbar macht und dabei von der Vorstellung einer offenen, bedeutsamen,
kommunikativen und kritischen Mathematik geleitet wird.
Prediger, Susanne: Mathematik als kulturelles Produkt menschlicher Denktätigkeit und ihr Bezug zum Individuum (S. 21-36)
Ausgehend von dem für das Mathematiklernen
fundamentalen Problem des (oft fehlenden) Subjektbezuges soll das Verhältnis von
Mensch und Mathematik analysiert werden. Dazu wird die Auffassung von Mathematik
als kulturelles Produkt menschlicher Denktätigkeit vorgestellt und begründet. So
wird das eigentümliche Spannungsverhältnis verstehbar, dass die Mathematik
einerseits zwar durch die Menschheit gestaltet ist, sie dem Einzelnen
andererseits aber als objektiv Gegebenes gegenübertritt. Erklärungsbedürftig ist
in dieser Auffassung die hohe Kohärenz der mathematischen Theorien und der große
Konsens unter Mathematikern. Daher soll unter Rückgriff auf historische
Untersuchungen und wissenschaftstheoretische Überlegungen ein Erklärungsansatz
angeboten werden.
Siebel, Franziska: Entwicklungslinien in der Mathematik am Beispiel der Geschichte der Algebra.S. 37-52
Mit
einer Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung der Mathematik anhand von
verschiedenen Phasen des Entwicklungsprozesses der Algebra werden wesentliche
Entwicklungslinien herausgearbeitet, die mit Fachsprache, Bezugsystem und
Abstraktion überschrieben werden können. Damit wird ein Verständnis wesentlicher
Charakteristika der heutigen Algebra vertieft und es kann für einzelne Schritte
und Problembereiche im Lernprozess sensibilisiert werden.
Fischer, Roland: Mathematik und Bürokratie (S. 53-63)
Ausgehend von einer von G. Schwarz
behaupteten Analogie zwischen Hierarchie und aristotelischer Logik werden
Argumente für eine Analogie zwischen Bürokratie und Mathematik angeboten. Eine
Gemeinsamkeit zwischen Mathematik und Bürokratie besteht in einer
„Verselbstständigung des Maschinellen“ oder, anders ausgedrückt, in einer
„Trennung von Regelsystem und Motiv“.
Beiträge aus didaktischer Sicht:
Lengnink, Katja; Peschek, Werner: Das Verhältnis von Alltagsdenken und mathematischem Denken als Inhalt mathematischer Bildung (S. 65-81)
Die
Leitthese dieser Arbeit ist, dass ein wichtiger mathematikspezifischer Beitrag
zur Allgemeinbildung im Spannungsverhältnis von Alltagsdenken und mathematischem
Denken zu suchen ist und der allgemeinbildende Mathematikunterricht erlebbar
machen sollte, in welcher Weise alltägliche Denkhandlungen in der Mathematik
konventionalisiert werden. Im ersten Abschnitt wird skizziert, dass
vorherrschende didaktische Denkrichtungen diesem Anspruch nicht gerecht werden,
im zweiten Abschnitt wird der Ansatz, das Verhältnis von Alltagsdenken und
mathematischem Denken zu unterssuchen, genauer entfaltet. Im dritten Abschnitt
werden Beispiele auf drei verschiedenen Konkretisierungsebenen diskutiert. Im
vierten Abschnitt wird ein kurzer Ausblick auf Forschungs- und Arbeitsbereiche
versucht.
Jablonka, Eva: Anwendungsorientierung im Mathematikunterricht. Didaktische Möglichkeiten - verpasste Chancen (S. 83-98)
Die
Ergebnisse mathematischer Modellierungen werden auf unterschiedliche Weise in
der uns umgebenden Alltagswelt wirksam. Ein wichtiges Ziel
anwendungsorientierten Mathematikunterrichts besteht daher darin, die Ergebnisse
einzelner Modelle im Hinblick auf Bedingungen, Interpretationsmöglichkeiten,
Verlässlichkeit, Brauchbarkeit und Praxisrelevanz bewerten zu können. Dazu
reichen mathematische Kenntnisse aber keineswegs aus, denn die Anwendung von
Mathematik ist immer in einen sozialen und kulturellen Kontext eingebettet. Um
Bewertungsmaßstäbe zu diskutieren, werden in dem Aufsatz verschiedene Kategorien
von Mathematikanwendungen an Beispielen illustriert, denen unterschiedliche
Ziele, Interessen und methodische Normen zugrunde liegen: Modelle als
Widerspiegelung empirischer Zusammenhänge, rhetorische und platonische Modelle,
Modelle als Transkriptionen von Normen, Zahlenmystik. Die Auswahl von Beispielen
für den Unterricht könnte insgesamt darauf gerichtet sein, dass sie exemplarisch
die unterschiedlichen Praktiken der Anwendung von Mathematik zeigt, um eine
differenzierte Betrachtungsweise anzuregen.
Hefendehl-Hebeker, Lisa: Verständigung über Mathematik im Unterricht (S. 99-109)
Gegenstand dieses Beitrages ist der Prozess
der Verständigung über Mathematik in der unterrichtlichen Vermittlung. Dabei
werden bestehende Hindernisse und Ansätze zu ihrer Überwindung
aufgezeigt.
Strobel, Anton: Natürliche Mathematik in der Freinet-Pädagogik (S. 111-125)
Auch in
der Mathematik gibt es Vermittlungsformen für den Menschen statt gegen den
Menschen. Statt einer systematischen Teilchendidaktik mit der Verabreichung
aufeinanderfolgender Lernhäppchen ist eine pädagogische Feldtheorie mit
tastenden Versuchen vorzuziehen. Am Anfang steht der singuläre Erkenntnisgewinn,
dann das Reguläre – als krönender Abschluss die
Systematik.
Beiträge aus der Perspektive der pragmatischen Philosophie:
Hoffmann, Michael: Die synthetisch-pragmatische Mathematikauffassung im Gegensatz zur analytischen. Ein Blick auf die Geschichte der Philosophie der Mathematik (S. 125-140)
Ausgehend von einer eher intuitiven
Unterscheidung von „Wissen“ und „Tätigkeit“ wird gezeigt, wie sich diese im
Rückgriff auf zwei in der Geschichte der Philosophie konkurrierende Auffassungen
von Mathematik, die man als „analytisch“ versus „synthetisch-pragmatisch“
bezeichnen kann, präzisieren lässt. Die These ist, dass sich das „Menschliche“
an der Mathematik in der synthetisch-pragmatischen Mathematikauffassung zeigt,
d.h. in einer Mathematikauffassung, die nach Kant auf Erkenntniserweiterung
durch die Konstruktion von Begriffen in der Anschauung angelegt ist, und nach
Peirce auf die Erfahrung des eigenen Denkens, seiner immanenten Regeln und
seiner Möglichkeiten in einem Prozess der „Diagrammatisierung“. Aus dieser
Sichtweise werden schließlich einige weiterführend Problemstellungen für die
Mathematikdidaktik abgeleitet.
Wille, Rudolf: Mensch und Mathematik. Logisches und mathematisches Denken (S. 141-160)
Logisches Denken als Ausdruck menschlicher
Vernunft erfasst die faktische Realität in den grundlegenden Denkformen Begriff,
Urteil und Schluss. Mathematisches Denken abstrahiert vom logischen Denken, um
hypothetisch einen Kosmos von Formen potentieller Realität zu erschließen. Die
Mathematik als Ausformung mathematischen Denkens kann deshalb den Menschen in
seinem logischen Denken über Realitäten unterstützen und damit vernünftiges
Handeln fördern. Dieser Gedankengang wird vornehmlich von Peirces
philosophischem Pragmatismus her ausdifferenziert und anhand der in Darmstadt
entwickelten Kontextuellen Logik konkretisiert.
Beiträge aus literarischer Sicht:
Radbruch, Knut: „Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntniss“ (Nietzsche) (S. 161-172)
Die
nicht sehr zahlreichen Anmerkungen zur Mathematik im Werk Nietzsches vermitteln
weder eine Ortsbestimmung der Mathematik im Kanon der Wissenschaften noch eine
klare Aussage über die Beziehungen zwischen Philosophie und Mathematik.
Nietzsche lobt einerseits die „reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es
ist“, doch warnt er andererseits auch vor Tendenzen, welche „das Dasein zu einer
Rechenknechts-Übung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen“. Dennoch:
Die heutige Philosophie der Mathematik kann und muss von Nietzsche lernen. In
diesem Beitrag wird gezeigt, dass insbesondere der soziale Konstruktivismus als
einer der Branchenführer gegenwärtiger Philosophie der Mathematik Nietzsches
sporadischen Bemerkungen über Mathematik wertvolle Anregungen entnehmen
kann.
Lowsky, Martin: Unvergessliche Seelenverwandtschaft: Theodor Fontane lernt Mathematik bei Jakob Steiner (S. 173-182)
Im
Mittelpunkt steht ein Gedenkartikel aus der Feder Fontanes und das hier
sichtbare komplizierte Verhältnis Fontanes zur Mathematik. Der Schriftsteller
Theodor Fontane (1819-1898) hatte in seiner Schulzeit als Mathematiklehrer Jakob
Steiner (1796-1863), den genialen Begründer der synthetischen Geometrie. Noch
als 78-Jähriger erinnert sich Fontane an die Rechenaufgaben und bekennt in einem
Gedenkartikel seine Hochachtung und seine Seelenverwandtschaft in bezug auf
Steiner, sagt aber zugleich von sich, er sei mathematisch gänzlich unbegabt.
Spezielle Passagen in Fontanes Werken und Briefen zeigen indes, dass er den
Umgang mit Zahlen souverän bewältigte und auch die ‚Mathematik als Formdenken’
beherrschte. Der psychisch und auch hinsichtlich einer Lernkultur bemerkenswerte
Fall lässt sich klären: Fontanes Beruf als Apotheker, der Rechenfertigkeiten
erforderte und der, als eine unakademische Laufbahn, ihm lebenslang peinlich
war, hinderten ihn daran, sich zu seinen mathematischen Talenten zu bekennen,
bei aller Verehrung für Steiner. – Die Berliner ‚Gewerbeschule’, an der die
Begegnung Steiner-Fontane stattfand und die ein neues naturwissenschaftliches
Schulmodell war, wird in diesem Beitrag ebenfalls
vorgestellt.
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